Arbeiten mit chronischer Erkrankung

Die eigene Gesundheit ist ein sehr persönliches Gut. Es gibt nicht ohne Grund eine ärztliche Schweigepflicht. Menschen mit chronischen Krankheiten müssen folglich viele Entscheidungen treffen, beruflich und privat. Laut einer Statistik* wurden im Jahr 2022 7,8 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung in Deutschland erfasst, das entspricht einem Anteil von 9,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. 90 Prozent der Beeinträchtigungen werden durch eine Krankheit verursacht. Im Berufsalltag können Menschen mit chronischen Erkrankungen dennoch belastbar und leistungsfähig sein. Es braucht hier immer individuelle Lösungen und Vereinbarungen. Zu diesem Thema haben wir mit Marvin Krüger, Software Test Engineer bei Neofonie, über seinen individuellen Weg gesprochen.

Marvin, seit April 2022 arbeitest du im Qualitätsmanagement bei Neofonie. Du leidest an einer chronischen Krankheit. Bitte erzähl’ uns ein wenig darüber.

Mit 12 Jahren wurde bei mir Diabetes mellitus Typ 1 diagnostiziert. Bei dieser Krankheit kann der Körper unter anderem Glukose und Kohlenhydrate nicht abbauen, es muss Insulin zugeführt und der Blutzuckerspiegel ständig überwacht werden. Die Diagnose hat meinen Berufseinstieg sehr beeinflusst, denn mein Wunsch war es immer gewesen, Polizist zu werden wie mein Vater. Dieser Weg stand mir nun nicht mehr offen. Bei der Einstellung für eine polizeidienstliche Laufbahn gibt es einige Ausschlussgründe bezüglich gesundheitlicher Anforderungen an die Bewerber. So ist die Stoffwechselerkrankung Diabetes mellitus Typ 1 und 2 einer der Ausschlussgründe. Eine Diensttauglichkeit hätte ich somit nicht erreicht. Diese Erkenntnis war für mich sehr niederschmetternd.

Später wurde dann eine weitere Erkrankung bei dir diagnostiziert.

Diese zweite Diagnose ist auch für mich noch relativ neu, sie liegt erst etwa zwei Jahre zurück. Nachdem ich realisieren musste, dass ich nicht in den Polizeidienst eintreten kann, hatte ich mir überlegt, in die Wissenschaft zu gehen. Zum Beispiel, um Erkrankungen wie meine weiter erforschen zu können. Daher fing ich an, Biotechnologie zu studieren. Direkt nach meinem Bachelor-Abschluss musste ich dann allerdings erfahren, dass ich auch an Multipler Sklerose leide.

Wie äußerte sich das?

Ich bekam einen starken Tremor im kompletten linken Arm, besonders in der Hand, und Lähmungen im linken Bein. Multiple Sklerose zeichnet sich ja durch das Auftreten in Schüben aus. Meist kündigt sich ein Schub im Voraus an, in seltenen Fällen geht es aber von jetzt auf gleich los. Und das ist in einem Labor, wo man mit Stoffen und Proben hantiert, natürlich nicht optimal. Daher beschloss ich, mich noch einmal ganz neu zu orientieren. Zunächst musste ich allerdings für längere Zeit in die Reha und eine starke Cortisontherapie über mich ergehen lassen.

War die Behandlung erfolgreich?

Ja, man konnte die zugrunde liegenden Entzündungen erst einmal wieder unter Kontrolle bringen.

Wie bist du bei deiner Neuorientierung vorgegangen?

Schon während der Reha habe ich mich immer wieder gefragt, wie es jetzt weiter gehen könnte. Ich habe mich auch in meinem Bekanntenkreis umgehört, ob jemand eine Idee hat. Ein Kumpel von mir, Flo, meinte dann, dass sie bei Neofonie Hilfe in einem Projekt benötigen, es ging um ein Praktikum. Die Arbeit bestand darin, Sachverhalte miteinander zu vergleichen, also, ob vor und nach der Projektarbeit alle Sachverhalte des Produkts übereinstimmen – ganz simpel strukturierte Qualitätssicherung. Flo motivierte mich zur Bewerbung, und ich wurde genommen.

Wie hat dir das Praktikum im Bereich der Qualitätssicherung gefallen?

Ich fand alles sehr interessant, wurde nach und nach an die Inhalte der Qualitätssicherung herangeführt und erfuhr, was dahintersteckt. Der nächste Schritt war dann die Bewerbung um eine reguläre Position im Qualitätsmanagement bei Khayrat Glende. Auf dieser Stelle bin ich nun seit August 2022.

Wie geht es dir denn aktuell?

Momentan bin ich gut eingestellt, was die MS-Schübe betrifft. Durch eine gute Medikation können sie im Idealfall verhindert werden. Diabetes wirkt sich langfristig auch auf das Gefäßsystem aus. Hier kann es zu Verstopfungen kommen, die dann die Funktion der Nerven beeinträchtigen können. Multiple Sklerose betrifft ebenfalls das Nervensystem, und ich habe vom ersten Schub noch Folgeschäden. In meiner linken Hand und auch im linken Bein sind die Nerven stark beschädigt worden, ich habe hier immer noch gewisse Taubheitsgefühle.

Was für besondere Bedürfnisse hast du in Bezug auf dein Arbeitsleben?

Es kann schon mal vorkommen, dass ich ganz plötzlich krankheitsbedingt ausfalle. Etwa, weil ich merke, dass irgendetwas nicht ganz stimmt und ich schnell zum Arzt muss. Hier bin ich auf ein gewisses Verständnis und den notwendigen Freiraum seitens des Arbeitgebers angewiesen.

Brauchst du besondere Arbeitszeiten oder Ruhepausen?

Ich arbeite nur 30 Stunden in der Woche, weil ich körperlich nicht so viel leisten kann wie ein komplett Gesunder. Zum Glück kann ich mir bei den meisten Projekten meine Zeit selbst ein wenig einteilen. Es bietet sich bei meiner Arbeit auch an, dass man zuerst eine Sache bearbeitet und im Regelfall nicht sofort die nächste erledigen muss. Da kann ich dann eine kleine Pause einlegen und danach die Arbeit fortsetzen. Natürlich gibt es auch Tage, an denen ich von einem Meeting ins nächste muss. Aber das sind Ausnahmen.

Hast du Diskriminierung aufgrund deiner Erkrankungen erfahren?

Bisher hatte ich viel Glück. Eigentlich kann ich mich an keine konkrete Diskriminierung erinnern. Ganz zu Anfang, als die Diagnose noch relativ frisch war und mir mein gelähmtes Bein sehr zu schaffen machte, gab es vielleicht mal ein paar unangenehme Situationen. Dadurch, dass das Kleinhirn betroffen ist, war auch mein Gleichgewichtssinn beeinträchtigt. Nach außen hin wirkte es daher manchmal, als wäre ich ein wenig betrunken. Gerade ältere Menschen, so meine Erfahrung, haben schnell geurteilt und mich für einen jugendlichen Besoffenen gehalten, der schon am Morgen rumtorkelt. Im Bus auf dem Weg zur Reha wurde ich angegangen, doch aufzustehen und älteren Menschen Platz zu machen. Dabei war ich körperlich völlig am Ende, weil alles noch ganz frisch war mit der MS und den Entzündungen. Aber das sind eigentlich meine einzigen schlechten Erfahrungen.

Zu welchem Zeitpunkt hast du Neofonie über deine Krankheiten informiert?

Ich bin damit von Anfang an offen umgegangen. Schon, als es noch um das Praktikum ging, habe ich mich mitgeteilt. Auch im Bewerbungsgespräch für die reguläre Stelle habe ich meine Krankheiten thematisiert und erwähnt, dass es schon mal vorkommen kann, dass ich alles stehen und liegen lassen muss, um zum Arzt zu gehen. Und dass auch krankheitsbedingte Ausfälle öfter vorkommen. Denn durch die MS-Medikamente ist mein Immunsystem geschwächt, dadurch bin ich anfälliger bin für Infekte.

Wie geht Neofonie damit um?

Alle sind sehr entgegenkommend und kulant, ich fühle mich sehr gut behandelt.

Unterstützen dich deine Vorgesetzten und Kollegen?

Das Wichtigste für mich ist, dass ich keine Probleme bekomme, wenn ich öfter mal zum Arzt muss. Hier erfahre ich viel Verständnis, Geduld und wie gesagt Kulanz. Es wird nicht vom Negativen ausgegangen, sondern vom Positiven, und das tut gut. Was die Kollegen angeht, so wissen gar nicht alle von meinen Erkrankungen. Das wird sich durch das Interview jetzt sicher ändern (lacht). Aber im Ernst: Ich gehe offen damit um. Für die Kollegen, mit den ich zusammenarbeite, ist es eigentlich gar kein Thema. Sie nehmen es zur Kenntnis, manche drücken ihr Mitgefühl aus.

Wie gehst du selbst damit um, wenn dich deine Krankheiten schwächen und zu Auszeiten verdonnern?

Zuletzt war es der Diabetes, der ein wenig entgleist ist. Durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen war mein Blutzucker über einen längeren Zeitraum viel zu hoch. Das hat sich auf den Körper ausgewirkt, und leider bin ich ausgefallen. Um wieder in normale Bahnen zu kommen, muss ich körperliche Ruhe halten, Flüssigkeit und natürlich Insulin zuführen. Arbeit gestaltet sich dann schwierig. Der mentale Umgang mit den Krankheiten steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt.

Hast du Strategien hierfür erarbeitet?

Nach meiner zweiten Diagnose habe ich zunächst viel verdrängt, mich im klassischen Sinne selbst belogen, was das Thema mögliche Einschränkungen anging. Mein Motto war: Das ist jetzt einfach eine weitere Erkrankung – blöd, aber nicht zu ändern. Ein Jahr nach der Reha hatte ich dann einen mentalen Zusammenbruch. Daraufhin habe ich mir professionelle Hilfe gesucht und Strategien für den Eventualfall entwickelt. Würde jetzt also noch mal ein großer Schub kommen, wäre ich besser vorbereitet. Wichtig ist, sich auf keinen Fall körperlich und mental stressen zu lassen, das beeinflusst die Krankheit negativ. Ich muss dann einfach zum Arzt und in Ruhe abwarten. Und versuchen, die Situation nicht an mich heranzulassen, mich andererseits aber auch nicht wieder selbst zu belügen, indem ich die Situation abwiegle. Es geht also um einen gesunden und realistischen Umgang mit der Erkrankung. Ganz wichtig ist in dem Zusammenhang die Hilfe von Familie und Freunden. Ohne diese Unterstützung weiß ich nicht, was passiert wäre. Zum Glück brauche ich mir darüber keine Gedanken machen. Ich muss nicht alles allein durchstehen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Hast du das Gefühl, dass das Thema chronische Krankheiten in der Jobwelt ausreichend thematisiert wird?

Ich selbst habe hier noch sehr wenig Erfahrung. Während meiner Reha erzählten mir viele, dass in ihren Firmen nicht besonders feinfühlig damit umgegangen wird. Dass sie als betroffene Arbeitnehmer in der Erklärpflicht sind, auf den Arbeitgeber zugehen müssen und explizit um Verständnis für krankheitsbedingte Ausfälle bitten müssen. Und dass das Thema gern beiseite geschoben wird. Die Erfahrung musste ich bei Neofonie zum Glück nicht machen.

Inwieweit ist dein Alltag durch die Erkrankungen eingeschränkt?

Mein Leben ist weniger spontan als das anderer Menschen. Ich kann zum Beispiel nicht einfach ins Blaue zu einer größeren Radtour aufbrechen, sondern muss für Notfälle vorsorgen. An ausreichend Insulin denken, die Insulinpumpe checken. Eine Radtour ist Sport, also muss ich genügend Kohlenhydrate mitnehmen, damit ich versorgt bin, falls eine Unterzuckerung eintritt. Ansonsten, und wenn ich nicht gerade einen Schub habe, bin ich im Alltag relativ frei von Einschränkungen. Spontanes Ausgehen mit Freunden ums Eck ist also durchaus drin!

Hast du dir etwas für das schon gar nicht mehr so junge Jahr vorgenommen?

Weiter in meinem Berufsfeld ankommen, das ist der Plan. Mein Wissen im Bereich Qualitätsmanagement festigen und weiter aufbauen, da ich ja ein kompletter Quereinsteiger bin. Als erstes steht hier für mich das Zertifikat ISTQB Foundation Level an. 

Privat ist es mein Ziel, endlich mit dem Rauchen aufzuhören. Wenn ich das schaffe, ist schon viel gewonnen in diesem Jahr.

 

Ganz viel Erfolg dabei – und vielen Dank, dass du so offen von dir erzählt hast!

 

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Das Interview führte Susen Rumposch.
Veröffentlichung am 28.03.2023

 

https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/PD22_259_227.html