Vielfalt als Stärke bei Neofonie
Unternehmen sind meist in sich so vielfältig wie die Gesellschaft selbst. Die Dimensionen der Vielfalt umfassen verschiedene Aspekte, wie kulturelle und soziale Hintergründe, unterschiedliche geistige und körperliche Fähigkeiten, Religionen, Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten, sexuelle Orientierung und verschiedene Generationen. Eine gelebte Vielfalt sollte dabei selbstverständlich sein, denn sie ist eine Stärke. Vielfalt in Unternehmen und Teams erhöht die Zufriedenheit, die Loyalität und am Ende auch die Leistungsfähigkeit von Führungskräften und Mitarbeitenden. Neofonie lebt Vielfalt nicht nur in Bezug auf Generationen sondern auch in Bezug auf die sexuelle Orientierung. Im Jahr 2017 lag der Anteil der Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter oder queer sind in Deutschland bei etwa 6,9 Prozent (*1). Davon sind, je nach Wirtschaftszweig, rund 40 Prozent der Arbeitnehmenden nicht geoutet, meist aus Angst vor Diskriminierung (*2). Wir haben unseren Kollegen Dastan Kasmamytov, Frontend Entwickler, zum Thema Vielfalt bei Neofonie und seinem ganz persönlichen Weg interviewt.
Welche Bedeutung hat der Begriff „Vielfalt“ für dich persönlich?
Wenn ich den Begriff auf mich beziehe, dann kann ich auf jeden Fall sagen: Meine Identität ist sehr vielfältig. Ich bin schwul und komme aus einer muslimischen Familie in Kirgisistan, also einem Land mit einer ausgeprägten Nomaden-Tradition. Die Familie steht im Zentrum, es ist zum Beispiel wichtig, dass der Familienname weitergegeben wird. Für mich heißt Vielfalt, dass diese verschiedenen Aspekte, die kontrovers erscheinen mögen, doch alle Bestandteile meiner Persönlichkeit sind, zu meinem Leben gehören. Früher habe ich meine Identität als Kirgise unterdrückt, weil Kirgisen recht homophob und sehr konservativ sind. Doch dann habe ich mir gesagt, ich bin ja auch ein Kirgise, und schwul dazu – und das ist ganz normal. Vielfalt zu leben ist nicht einfach, aber es ist möglich.
Seit einigen Jahren lebst du im Ausland und hast dir als queerer Aktivist einen Namen gemacht. Konntest du dich denn bereits in Kirgistan outen?
Man könnte vielleicht eher sagen, dass das Coming-out mir „passiert“ ist. 2014 war ich im Rahmen meiner Arbeit bei einer queeren Organisation eingeladen worden, an einer Pressekonferenz von Human Rights Watch teilzunehmen und meine persönliche Geschichte mit Gewalterfahrung durch die Polizei zu erzählen. Es war eine Art öffentliches Coming-out, danach wussten sämtliche Verwandten, Freunde und Uni-Kommilitoninnen, dass ich schwul bin.
Wie haben sie reagiert?
Ich glaube, alle waren schockiert. Das größte Problem war aber nicht mein direktes Umfeld, sondern mir gänzlich unbekannte, homophobe Menschen, die sich in den Kopf gesetzt hatten, uns Schwule und Lesben zu jagen. Ich selbst bin auch geschlagen worden und habe auch jetzt noch Sorge, wenn ich nach Kirgisistan fliege. Es kommt immer noch vor, dass mich jemand aufgrund meines öffentlichen Coming-out erkennt.
Wie ist denn die Rechtslage in Kirgistan zum Thema Homosexualität?
Es gibt keine Gesetze wie in Usbekistan, die Homosexualität verbieten, aber auch kein Anti-Diskrimierungsgesetz wie in Deutschland. Wenn wir Probleme aufgrund unserer sexuellen Orientierung bei der Arbeit oder an der Uni haben, schützt uns niemand. Und natürlich können wir auch keine Familie gründen oder Kinder adoptieren.
Wie ging es weiter nach diesen sehr unangenehmen Erfahrungen und dem öffentlichen Coming-out?
Ich bin praktisch aus dem Land geflüchtet. Zuerst ging ich zum Studium nach Norwegen, später nach Deutschland.
Wenn man deinen Namen im Internet sucht, werden sofort Ergebnisse sichtbar, die zum einen das Klettern, zum anderen deinen Einsatz für die LGBTQI*-Community thematisieren. Bitte erzähl‘ uns doch, wie und wo dieser Weg begonnen hat.
Mit dem Klettern und Bergsteigen habe ich schon früh begonnen, mit 16 oder 17, in meiner Heimatstadt Bischkek. Die Berge waren eine Zuflucht für mich, in ihrem Schutz konnte ich meine Einsamkeit genießen. Einsamkeit bedeutete in dieser Zeit Sicherheit für mich, denn als Aktivist hatte ich schon allerhand Schlimmes erlebt. Gleichzeitig war es mein Ziel, etwas für die LGBTQI*-Community zu bewegen. Ich habe also überlegt, wie ich die beiden Aspekte – queeren Aktivismus und mein Faible für Berge – zusammenbringen kann. 2018 habe ich gemeinsam mit Freunden die Kampagne Pink Summits ins Leben gerufen.
Was genau macht ihr bei dieser Aktion und was ist das Ziel?
Pink Summits setzt sich für mehr Sichtbarkeit von LGBTQI*I* ein. Gemeinsam – mittlerweile sind wir 15 Mitglieder – besteigen wir unter anderem die Seven Summits, also die sieben höchsten Gipfel der Erde. Unseren ersten Berg, den Elbrus im Kaukasus, haben wir 2018 bestiegen. Seitdem haben wir drei weitere Berge gemeistert, den australischen Kosciusko, den Kilimanjaro und den Mont Blanc (Alpen). Auf jedem Gipfel hissen wir die Regenbogenflagge, verbinden also eine sportliche Aktion mit großer Symbolik, die, so mein Gedanke und meine Hoffnung, besonders in den russischsprachigen und kirgisischen Raum hineinwirkt. Mit unseren Aktionen möchten wir junge LGBTQI*I* dazu inspirieren, an ihre Kräfte und Fähigkeiten zu glauben, um die Welt zu verändern.
Welcher Berg ist denn als nächstes dran, und wie bereitet ihr euch darauf vor?
Unser nächstes Ziel ist der Aconcagua in Argentinien, der höchste Berg Südamerikas, den wir uns für Dezember 2022 vorgenommen haben. Diese großen Expeditionen muss man weit im Voraus planen, mindestens ein Jahr. Der Urlaub muss gut eingetaktet sein, außerdem kostet es eine Menge Geld. Hier sind wir auch auf Spenden angewiesen. In meinem Fall kommt natürlich auch viel Bürokratie hinzu, weil ich ja noch kirgisischer Staatsbürger bin. Last not least: Man muss körperlich fit sein.
Wie viel trainierst du denn im Vorfeld deiner Bergbesteigungen?
So viel dann auch wieder nicht, allerdings ist der Aconcagua auch technisch nicht so anspruchsvoll wie andere Berge. Meistens mache ich am Wochenende einige Touren und jogge unter der Woche.
Bekommst du Feedback zu deinen Aktionen?
Ja, sogar recht viel, allerdings leider nicht nur Positives. Es sind sehr viele Hass- und homophobe Kommentare dabei – fast alle russisch oder kirgisisch. Anfangs fiel es mir sehr schwer, damit umzugehen, aber mittlerweile versuche ich, das Negative ins Positive zu drehen, indem ich die Hasskommentare dokumentiere. Für jeden Hasskommentar versuchen wir dann, Geld zu sammeln, und spenden dieses an LGBTQI*-Projekte in Zentralasien. Je mehr Hasskommentare ich also erhalte, desto mehr Gelder kann ich sammeln – so der Gedanke.
Hasskommentare sind aber doch sicher nicht deine einzige Erfahrung. Was waren bisher deine persönlichen Highlights in Hinblick auf das Klettern und deinen Aktivismus?
Da gab es mehrere. Besonders gern erinnere ich mich daran, wie wir auf dem Pik Elbrus, dem größten Berg Russlands (und vielleicht Europas), unsere Regenbogenfahnen gehisst haben. Er liegt in der russischen Kaukasusrepublik Kabardino-Balkarien, einem der homophobsten Teile Russlands, nahe Tschetschenien, wo LGBTQI*-Menschen gefoltert oder sogar getötet werden. Bei der Anreise hatten wir an der Grenze Probleme mit dem russischen Sicherheitsdienst FSB, der uns zum Glück aber nur verhörte. Trotzdem war es ein Schreck, und umso stolzer und glücklicher waren wir, als wir unbeschadet oben auf dem Berg ankamen.
Das zweite Highlight war die Gipfelbesteigung des Mont Blanc gemeinsam mit meinem Freund, den ich Anfang letzten Jahres kennengelernt habe. Er ist auch Bergsteiger – und sogar ein viel erfahrener als ich. Der Moment, als Paar auf dem Gipfel des Mont Blanc anzukommen, war sehr besonders und kostbar.
Mein drittes Highlight war die Nachricht eines schwulen kirgisischen Mannes, der in China lebt. Er schrieb mir, dass er erst durch meine Kampagnen und Stories erfahren hat, dass es queere Kirgisen gibt. Das hat mich sehr berührt.
Machen wir einen kleinen thematischen Sprung: Wenn du nicht auf Bergen herumkraxelst, arbeitest du als Frontend-Entwickler bei Neofonie. Wie empfindest du die Atmosphäre dort, besonders unter dem Aspekt Vielfalt?
Da kommt mir als erstes mein Jobinterview bei Neofonie in den Sinn. Mir war es wichtig, gleich von Anfang an darauf hinzuweisen, dass ich viele Aktionen und Bergexpeditionen unternehme, gerade in Hinblick auf Urlaubszeiten. Es stellte sich heraus, dass meine Gegenüber bereits über alles informiert waren, meine Projekte und mein Engagement für die queere Community kannten. Ich habe mich sofort sehr unterstützt gefühlt. Insgesamt finde ich, dass die Firma sehr vielfältig aufgestellt ist. Es gibt Menschen mit verschiedensten Hintergründen, und das Miteinander funktioniert super. Ich glaube, das ist so, weil jeder vom anderen lernt. Wir tauschen uns untereinander aus, kommen zusammen als Neofonie-Community. Ich habe das in der Vergangenheit bei verschiedenen Unternehmen schon ganz anders erlebt. Diese besondere Offenheit und der Support ist für mich immer spürbar, das schätze ich sehr an Neofonie.
Wie gehst du mit deiner queeren Identität in der Neofonie um?
Ich habe es nicht direkt jedem erzählt, dennoch wissen es alle (lacht).
Was ist der größte Unterschied, wenn du das Arbeitsleben in Kirgisistan und Deutschland vergleichst?
Der größte Unterschied ist für mich, dass ich als Arbeitnehmer in Deutschland geschützt bin, auch und besonders, wenn es um Themen wie Sexualität geht.
Wie wird aus deiner Sicht Vielfalt bei Neofonie gelebt?
Selbst in meinem kleinen Kosmos, meinem Büro, gibt es viele Menschen mit verschiedenen Hintergründen. So kommen immer neue Impulse in mein Leben. Das ist exemplarisch für Neofonie – es ist ein bunter Haufen. Und das hilft mir persönlich, einen common ground zu finden. Ich bin eigentlich nämlich eher schüchtern.
Vielen Dank für das Gespräch!
Spendenkonto für die anstehende Bergbesteigung – Aconcagua – im Dezember 2022.
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Das Interview führte Susen Rumposch.
Veröffentlichung am 27.10.2022